Zum Nachlesen: Kanzelrede von Björn Bicker

Björn Bicker, Autor, Regisseur und Dozent, hat St. Lukas am 18. März 2018 besucht und mit uns Gottesdienst gefeiert; hier ist seine Kanzelrede zum Nachlesen.

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Im Haus der Träume. Nachdenken über den sakralen Raum

Der Kirchenraum soll umgestaltet, den aktuellen Bedürfnissen des Gottesdienstes und der Gemeindearbeit angepasst werden. Eine Situation, die in den nächsten Jahren auf viele Gemeinden zukommen wird. Ein Relaunch in Zeiten, in denen sich alles rasend schnell verändert, alte Gewissheiten in Frage gestellt und zukünftige Entwicklungen ängstlich betrachtet werden. Alles ist im Wandel. In der Kirche, im Theater, in der Kunst, in der Gesellschaft, ja sogar die Atmosphäre, die uns umgibt, das Klima wandelt sich. Und dann: Ein Update des heiligen Raumes. Wir befinden uns hier in einer Kirche, in einem sakralen Raum und denken darüber nach, was ein sakraler Raum sein könnte. Jetzt, da alles anders wird. „Raum schaffen! Das Heilige suchen!“

Die unzähligen Gottesdienste, Taufen, Trauungen, Konfirmationen, Ordinationen, Konzerte, Installationen, die in diesem Raum schon stattgefunden haben, all die stillen und lauten Gebete, die Predigten und Reden, all die Ideen, die hier schon geboren wurden, das alles macht diesen Raum zu einem aufgeladenen Ort, zu einem Ort der Sehnsucht, zu einem Haus der Träume.

St. Lukas: da steckt das Heilige schon im Namen. Aber was ist an diesem Raum heilig? Begegnen wir hier dem Göttlichen? Ist es das, das Heilige: dem Göttlichen begegnen? Was ein Raum ist, darauf können wir uns alle irgendwie einigen, aber das Heilige?

Was soll das sein?

Der Mann meiner Schwester hat im letzten Jahr sein Berufsleben als Erdkunde- und Sportlehrer beendet. Mit 66. Mein Schwager war sein Leben lang mit Leib und Seele Pädagoge, er hat mit seiner Frau drei Kinder großgezogen, er hat ein Haus gebaut und für die Zukunft seiner Familie gesorgt. Die ersten Enkelkinder sind schon geboren und er tut Dinge, zu denen er die letzten 40 Jahre nicht so recht gekommen ist. Man könnte sagen: Ein gelungenes Leben. Als wir uns im letzten Jahr bei einem Familienfest getroffen haben, sprachen wir wie immer über das 900-Seelen-Dorf in der Eifel, in dem wir beide aufgewachsen sind und das er vor gut 50 Jahren verlassen hat. Mein Schwager war sein Leben lang ein passionierter Fußballer. Seine Kindheit und Jugend hat er auf dem Fußballplatz dieses Dorfes verbracht. Dort hat er Niederlagen erlitten, Erfolgserlebnisse gefeiert, dieser Fußballplatz steht für seine Herkunft, seine Möglichkeiten, steht für Heimat, Geborgenheit, Freunde und Eingebunden sein. Und dann plötzlich mitten in unser belustigt-nostalgisches Gespräch hinein sagte mein Schwager: „Weißt Du was? Wenn ich sterbe, dann möchte ich, dass meine Asche feierlich im Mittelkreis dieses Fußballplatzes verstreut wird. Dort hat alles angefangen und dort soll alles enden.“ Volltreffer. Ungewollt hatte mein Schwager eine Definition davon gegeben, was ein heiliger Ort sein kann. Der Mittelkreis des Fußballplatzes unseres Dorfes ist für meinen Schwager der Ort, der seinem Leben Kontinuität und Sinn verleiht. Alles, was in seinem Leben geschah, lässt sich auf diesen Mittelkreis beziehen. Dieser Ort ist meinem Schwager heilig. Er würde nicht so weit gehen, über dem Mittelkreis des Fußballplatzes eine Kathedrale errichten zu wollen, aber die emotionale Verbindung zum Mittelpunkt und Ursprung seiner Welt ist wahrscheinlich stabiler als das Gemäuer von St. Lukas. Das Heilige ordnet unsere Welt. Es gibt ihr Sinn. Und es ist zugleich ein Sehnsuchtsort, an dem wir mal waren, von dem wir aber vertrieben sind, der uns bleibt als Hoffnung, als Erinnerung, als Traum, für manche auch als Albtraum. Das Heilige verbindet uns mit einer Dimension, die größer ist als wir selbst. Mächtiger. Es markiert Anfang und Ende und es verbindet uns mit einer Wirklichkeit, die schon vor uns da war und die auch nach uns noch Bestand haben wird. Aber das Heilige ist gefährlich. Die Erfahrung des Heiligen hat immer auch den Preis, dass es uns wieder verloren geht. Die Erfahrung des Heiligen konfrontiert uns nicht nur mit dem Anfang von allem, nein, sie konfrontiert uns auch mit dem Ende von allem, mit Gewalt, Tod und Trauer.

Diese Gleichzeitigkeit habe ich gespürt, als ich bei der Geburt meiner beiden Kinder dabei sein durfte. Zwei gesunde Kinder zu haben, deren Geburten mehr oder weniger natürlich im geschützten Raum einer gut ausgestatteten Münchner Klinik stattfanden: Was für ein Privileg. Und dennoch: Ich verrate keine intimen Details, wenn ich von Schmerz, Blut, Schreien, Angst, Übermüdung und Flehen spreche. Und dann dieser eine Moment, wenn das Kind endlich dem erschöpften Körper der Mutter entrissen ist, wenn die Zeit still zu stehen scheint, wenn die Nabelschnur vom kleinen Hals des Babys gewickelt wird, diese Sekunde, da nicht klar ist, wird es jetzt schreien oder wird es stumm bleiben, wird das Blau aus dem Gesicht dieses kleinen Menschen wieder weichen oder nicht, wird das Leben gewinnen oder der Tod, dieser kurze Moment, der einen fast zerreißt, dieser Moment, in dem man sich auf der Schwelle zwischen dem absoluten Glück und der abgründigsten Trauer befindet, dieser Moment, in dem Leben und Tod gleichzeitig im Raum sind, dieser Moment, in dem es sich entscheidet: Wird es gut oder wird es herzzerreißend, in diesem Moment habe ich eine Erfahrung gemacht, die mich an etwas angeschlossen hat, was ich heilig nennen würde. Ich spüre eine Macht, die stärker, größer, unberechenbarer ist als alles, was ich bisher kannte. Eine Macht, die über Leben und Tod entscheidet. Dieser Moment von Verbundenheit mit dem Leben, das immer auch Tod bedeutet, dieser Moment ist ein Augenblick von Heiligkeit, weil er eine Wirklichkeit berührt, die mir in meinem alltäglichen Leben verborgen bleibt. Eine Wirklichkeit, die viel zu gefährlich ist. Solche Momente reißen den Himmel auf. So wie bei Jakob auf der Flucht vor seinem Bruder Esau. Auf dem langen Weg zu seinem Onkel nach Haran legt Jakob sich am Abend zum Schlafen und hat einen Traum.

„Während er schlief, sah er im Traum eine breite Treppe, die von der Erde bis zum Himmel reichte. Engel stiegen auf ihr zum Himmel hinauf, andere kamen zur Erde herunter. 13 Der HERR selbst stand ganz dicht bei Jakob und sagte zu ihm: »Ich bin der HERR, der Gott deiner Vorfahren Abraham und Isaak. Das Land, auf dem du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. 14 Sie werden so unzählbar sein wie der Staub auf der Erde und sich nach allen Seiten ausbreiten, nach West und Ost, nach Nord und Süd. Am Verhalten zu dir und deinen Nachkommen wird sich für alle Menschen Glück und Segen entscheiden. 15 Ich werde dir beistehen. Ich beschütze dich, wo du auch hingehst, und bringe dich wieder in dieses Land zurück. Ich lasse dich nicht im Stich und tue alles, was ich dir versprochen habe.«16 Jakob erwachte aus dem Schlaf und rief: »Wahrhaftig, der HERR ist an diesem Ort, und ich wusste es nicht!« 17 Er war ganz erschrocken und sagte: »Man muss sich dieser Stätte in Ehrfurcht nähern. Hier ist wirklich das Haus Gottes, das Tor des Himmels!«18 Früh am Morgen stand Jakob auf. Den Stein, den er hinter seinen Kopf gelegt hatte, stellte er als Steinmal auf und goss Öl darüber, um ihn zu weihen. 19 Er nannte die Stätte Bet-El (Haus Gottes);“ Gen. 28, 12-18.

Das erste Gotteshaus: Ein Traum. Die Anwesenheit und die Zusage des einen Gottes, die Menschen zu begleiten. Das Heilige bekommt einen Ort, ein Haus. Das Tor des Himmels. Das Haus der Träume.

Da fängt Religion an, wenn wir versuchen, dem Heiligen einen Ort zu geben, wenn wir von der Anwesenheit Gottes träumen, von einer Anwesenheit, die uns beschützt, anstatt uns zu zerstören, von einer Anwesenheit, die uns Orientierung gibt, Anfang und Ende markiert. Die Geschichte Israels im Alten Testament scheint mir auch eine Art Ideen- und Architekturgeschichte sakraler Bauten zu sein. Später als Moses mit seinem Volk unterwegs ist in jenes Land, in dem Milch und Honig fließen soll und der Gott mal wieder ungehalten ist und seine Gefolgschaft verweigert und die Menschen alleine lässt, da versucht er es mit einem Zelt.

„Von da an schlug Mose jedes Mal, wenn das Volk Rast machte, außerhalb des Lagers ein Zelt auf. Er nannte es das Zelt der Begegnung mit Gott. Wer von den Leuten im Volk eine Weisung oder Entscheidung des HERRN suchte, musste dorthin gehen.“ 2. Mose 33, 7

Aber auch in diesem Zelt, in dem Gott mit Mose redet, kriegt Moses nicht genug. Er will Gott wirklich sehen. Zeig mir Dein Gesicht! Und dann gibt es eine Lektion in Heiligkeit.

„Der HERR erwiderte: »Ich werde in meiner ganzen Pracht und Hoheit an dir vorüberziehen und meinen Namen ‘der HERR’ vor dir ausrufen. Es liegt in meiner freien Entscheidung, wem ich meine Gnade erweise; es ist allein meine Sache, wem ich mein Erbarmen schenke. 20 Trotzdem darfst du mein Gesicht nicht sehen; denn niemand, der mich sieht, bleibt am Leben.“ 2. Mose, 33, 19-20

Wir halten die Anwesenheit Gottes nicht aus. Das Heilige, das Göttliche, das bringt uns um.

Da gehen wir doch lieber ins Theater. Im Theater geht es nicht um Leben und Tod. Auf dem Theater wird so getan als ob. Das ist der große Unterschied zwischen dem Theater und dem Kreißsaal. Und auch zwischen dem Theater und der Kirche? Auf dem Theater gibt es die große Verabredung, dass alles, was geschieht, eben nicht geschieht. Die Ohrfeige ist Akrobatik. Die Liebe ist halluziniert. Der Mord nur vorgetäuscht. Das einzige, was echt und tatsächlich geschieht ist das Spielen. Das Sich-Verstellen. Das Theater ist Fake. Aber die, die es tun, tun es mit großer Inbrunst und fühlen sich manchmal so, als würden sie es in echt erleben. Theater findet zumeist in geschlossenen Räumen statt. Diese Räume haben Regeln, Schwellen, Rituale. Wie Kirchen. Die Menschen erhoffen sich, dass ihre eigene Lebenswelt dort stellvertretend verhandelt wird. Das erleichtert, unterhält, verändert uns. Und manchmal transzendiert es unser Leben und wir haben beim Zuschauen Momente der Erkenntnis, der Öffnung hin zu einer Realität, die uns im Alltäglichen zumeist verschlossen bleibt. Der Gott der Kunst und der Gott der Religion sind miteinander verwandt.

Die durchaus kritische, aber sehr elaborierte Kunstproduktion hat über die Jahrzehnte dazu geführt, dass viele Theater zu abgekapselten Parallelwelten geworden sind. Die Theater sind bevölkert von gut ausgebildeten, wohlhabenden, weißen, meist älteren Menschen, die sich Abend für Abend, gewollt oder ungewollt, darin bestätigen, dass sie selbst anwesend sind und die anderen nicht. Während es in den Theatern recht homogen zugeht, hat sich die Welt draußen aber rasant verändert. Durch Migration und Globalisierung ist unsere Stadtgesellschaft zu einer Gesellschaft der Vielfalt geworden, kulturell, ethnisch, religiös. Unsere Gesellschaft ist eine Ansammlung vieler verschiedener Minderheiten, deren friedliches Zusammenleben wir nun fortwährend organisieren müssen. Offen, wertschätzend. Da helfen kein Jammern und kein Zaudern. Das ist unser Job. Als Theatermacher kam mir diese bildungsbürgerliche Blase, in der ich mich befand, irgendwann ziemlich weltfremd vor. Da ich aber einen festen Glauben an das Theater und seine Möglichkeiten hatte, bin ich mit meinen Kollegen irgendwann einfach raus aus dem Theater und wir haben vor einigen Jahren damit begonnen, Projekte zu entwickeln, die sich genau mit diesen Themen beschäftigen. Und zwar gemeinsam mit den Menschen, mit denen ich im Theater normalerweise nicht in Kontakt komme. An den Orten, an denen diese Menschen leben, arbeiten, beten, zur Schule gehen.

Bei einem dieser Projekte bin ich im Auftrag des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg in einer Kirche gelandet und zwar auf der Veddel, einem Hamburger Stadtteil, in dem Menschen aus über 100 verschiedenen Ländern leben, einem ehemaligen Arbeiterstadtteil, der seit vielen Generationen von Einwanderung geprägt ist. Viele Menschen dort sind arbeitslos und auf staatliche Unterstützung angewiesen. Zudem hat der Stadtteil einen schlechten Ruf. Nicht zuletzt, weil einer der Attentäter vom 11. September eine Zeitlang dort gelebt und natürlich auch die lokale Moschee besucht hat. Die Bewohnerinnen und Bewohner des Stadtteils leiden unter diesem schlechten Image. Die meisten Menschen leben gerne dort, weil die Veddel einen sehr dörflichen Charakter hat, jeder kennt jeden, die Nachbarschaft spielt eine wichtige Rolle. Wenn jeder anders ist, wird das Anders-Sein zur Heimat. In der geografischen Mitte des Stadtteils gibt es eine evangelische Kirche. Direkt neben dem Fußballplatz und der Schule. Wie in einem Dorf. Als ich bei einem meiner ersten Spaziergänge durch die Nachbarschaft an der Tür des Pfarrhauses geklingelt habe, öffnete mir ein groß gewachsener Mann – der letzte Pastor der Veddel. Er erzählte mir davon, dass es eigentlich gar keine Gemeinde mehr gäbe, nur noch ein paar verstreute evangelische Christen, die meisten im Stadtteil seien Muslime, gehörten christlichen Freikirchen an oder hätten gar keine Religion. Und er erzählte mir von seinem Traum: “Ich möchte die Kirche öffnen, ich möchte die Kirche dem Stadtteil schenken, ich möchte, dass meine Kirche ein Ort für alle wird. Ein Ort der Begegnung, ein Ort der Gemeinsamkeit. Ein Ort der Freude. Egal, wo die Menschen herkommen, egal welcher Religion sie angehören. So ein Ort fehlt in diesem Stadtteil. Das soll mein Gottesdienst sein. Mein Haus der Träume“. Und ich habe ohne zu zögern meine Hilfe angeboten. Und so wurde die Immanuelkirche auf der Veddel zum Zentrum unseres neuen Projekts. Wir nannten das, was wir vorhatten NEW HAMBURG. Und wir haben angefangen in einem zweijährigen Prozess, gemeinsam mit den Bewohnerinnen und Bewohnern, Projekte zu entwickeln, die den Kirchenraum zum Zentrum des Stadtteils machen sollten. Mitgemacht haben die Schule, die muslimische Gemeinde, der Kindergarten, Geschäftsleute, soziale Träger, die Flüchtlingsunterkunft, Künstler, Aktivisten und viele, viele einzelne Bewohnerinnen und Bewohner des Stadtteils. Wir haben in der Kirche ein Café für alle gegründet, es wurde Theater gemacht, Bands und politische Initiativen gegründet und dann gab es ein zweiwöchiges Festival auf dem all die Arbeiten und Versuche präsentiert wurden, die in dieser fulminanten Kollaboration entstanden waren. Nach dem Festival haben die Bewohnerinnen und Bewohner das Projekt mit Unterstützung der Kirche und des Theaters einfach weiterlaufen lassen. Das geht nun schon über vier Jahre so. Natürlich hat sich auch der Kirchenraum verändert. Die Kirchenbänke sind einem einladenden Teppichboden gewichen, an der Decke strahlt ein großer heller Leuchter, der an die Beleuchtung der Hagia Sophia in Istanbul erinnert. Neben dem Eingang sind Schuhregale, die multifunktional genutzt werden.

Das zentrale Theaterstück, das wir gemeinsam mit Bewohnerinnen und Bewohnern und Schauspielern des Deutschen Schauspielhauses entwickelt hatten, hieß „Die Insel“ und es war eine Art multireligiöser Feier des Zusammenlebens in diesem armen, aber doch so reichen Stadtteil. Mit dabei waren Christen, Muslime, Atheisten, Pfingstler, St. Pauli Fans, Menschen mit deutschen, türkischen, Ghanaischen, nigerianischen, albanischen und Schwedischen Vorfahren. Und beschworen wurde das neue Hamburg, die neue Welt, das Zusammenleben der Vielen. Der Kirchenraum wurde zum Zentrum des Stadtteils. Während einer Probe zu unserem Stück kam es zu einer besonders beeindruckenden Szene. Sefa, ein junger, sehr frommer Muslim, der in der Moscheegemeinde die Kinder im Koran unterrichtet, machte als Darsteller bei unserem Stück mit. Er kam eines Morgens aus der Garderobe in den Kirchenraum und hatte sich aus dem Kostümfundus Locken und Kleidung eines Ultra-Orthodoxen Juden besorgt. So kam er barfuß in die Kirche, unter dem Arm trug er seinen geliebten Koran und er ging schnurstracks auf die Kanzel zu, stieg nach oben, schlug den Koran auf und rezitierte in diesem Kostüm ganz ernst seinen Lieblingsvers aus seinem heiligen Buch. Es ging um Versöhnung und Liebe unter den Menschen. Alle hielten den Atem an. Und dann, als er fertig war, schaute er in die Runde und fing an zu lachen. Und alle stimmten ein in sein Lachen. Es war ein warmes, freudiges Lachen. Und diese Szene fand später Einzug in die Aufführung und der gesamte Stadtteil sah Sefa, dem jungen frommen Muslim, abends dabei zu, wie er anfing mit seiner religiösen Identität zu spielen, wie er versuchte, die Dinge und die Traditionen in seinem Spiel zusammen zu bringen.

Das waren für mich sehr heilige Momente. Dieser Kirchenraum war plötzlich ein Ort des Friedens, ein Ort der Entspannung, ein Ort, an dem die Ordnung der profanen Welt durcheinandergeriet, der ewige Fluss von Konflikt und Vorwurf und Unverständnis war unterbrochen und in diesem Gotteshaus blitzte etwas auf, das wir alle so bitter nötig haben: Hoffnung. Der Vorschein einer anderen Welt. In der Immanuelkirche auf der Veddel ist in der Apsis hinter dem Altar ein riesiger Jesus in kräftigem schwarzem Strich an die Wand gemalt. Er hält seine rechte Hand segnend in den Raum. Während des Festivals auf der Veddel organisierten wir auch eine offene Koranschule für Erwachsene. Diese Nachmittage fanden im Wechsel in der lokalen Moschee und in der Kirche statt. An einem Nachmittag in der Kirche, es ging um die Bedeutung der Nachbarschaft im Koran, hatten wir uns im Halbrund vor dem Altarraum versammelt, um dem Vortrag eines muslimischen Theologen zu lauschen, da hatte einer der anwesenden Muslime, den Impuls die anstehende Gebetszeit nicht verstreichen zu lassen, sondern zu beten. Er stand auf, rollte seinen Gebetsteppich im Altarraum der Kirche, unter den schützenden Händen dieses Jesus Bildes aus und verrichtete sein Gebet Richtung Mekka, während wir ein paar Meter weiter vorne saßen und lebhaft miteinander über das Thema des Vortrags diskutierten. An diesem Nachmittag war eine Reporterin des GEO Magazins zu Gast, die gerade an einer Reportage über neue religiöse Orte in Europa arbeitete. Die Mitreisende Fotografin ließ sich dieses Motiv natürlich nicht entgehen: Ein junger, muslimischer Mann im Adidas Trainingsanzug, der auf seinem Gebetsteppich neben dem Altar unter den segnenden Händen dieses Jesusbildes zu seinem Gott betet. Daneben das große Stativ und der Scheinwerfer der Theaterbeleuchtung. So sieht das, was in Wirklichkeit geschehen ist, auf diesem Bild aus wie eine Inszenierung. Die Gleichzeitigkeit von christlicher und muslimischer Frömmigkeit in einem Raum. Das selbstverständliche Neben- und sogar Miteinander der Menschen an diesem Nachmittag machte diese Kirche an diesem Tag für mich zu einem heiligen Raum. Ich fing an, zu verstehen, was der Traum des letzten Pastors von der Veddel war. Einen Raum zu öffnen, in dem all das möglich war, was woanders in der Gesellschaft nicht oder nur zu selten funktioniert. Respekt. Neugierde. Miteinander. Und friedliches Nebeneinander, auf engstem Raum. Den Kern der eigenen Religiosität als Offenheit für andere zu begreifen. Das könnte auch eine Leiter sein, die Leiter, die Jakob im Traum den Himmel öffnete. Befreit zu sein, von einengenden Gesetzen, von frommen Vorschriften und Zuschreibungen, was das Heilige denn nun gefälligst sein und welchen Gesetzen der sakrale Raum gehorchen soll. Die Freiheit, Menschen das tun zu lassen, was sie eigentlich am liebsten tun: Gemeinschaft bilden. Mit anderen Menschen. Und vielleicht sogar Gott begegnen. Aber wie bilden wir Gemeinschaft in einer Stadt, in der die Menschen an verschiedene Götter glauben, aus unterschiedlichen kulturellen Zusammenhängen stammen? Wie kann das gelingen? Auf jeden Fall brauchen wir dafür Räume! Vielleicht brauchen wir genau dafür sakrale Räume. Vielleicht ist auch das unser Gottesdienst. Das Vorleben radikaler Offenheit. Unsere Zelte, unsere Häuser öffnen. Und ja, das ist gefährlich! Das zwingt uns dazu, uns selbst zu befragen, uns selbst kennen zu lernen, damit wir auch von uns selbst erzählen können. Das stößt uns mit der Nase darauf, dass wir die Wahrheit nicht gepachtet haben. Wir können uns nicht länger einigeln und so tun, als würde sich die Welt nicht verändern oder gar um uns drehen. Unsere Gewissheiten stehen auf dem Spiel, ja, auch das könnte das Heilige sein, sich dieser Gefahr aussetzen und dann schauen, was passiert. Hoffnung haben, dass wir das Aushalten und gestärkt aus diesen Begegnungen hervorgehen.

Dieses Haus hier ist aus Stein. Aber wenn man den Turn des Neuen Testaments ernst nimmt, dann hat das Heilige ganz viele Häuser. Dann sind wir nämlich alle Wohnstätten des Heiligen. »Denn wo zwei oder drei in meinem Namen zusammenkommen, da bin ich selbst in ihrer Mitte.« (Matthäus 18, 20) Die Gemeinschaft der Heiligen in einem heiligen Raum. In dieses Haus würde ich gerne einziehen, in dieses Haus der Träume. „Denn der Tempel Gottes ist heilig, und dieser Tempel seid ihr!“ so sagt es Paulus im ersten Brief an die Korinther. (1. Korinther, 3,16) Wir tragen diese ganzen Ambivalenzen in uns. Wir sind vom Tode bedroht, wir sind fähig zum gelingenden Leben. In dieses Haus der Träume möchte ich gerne einziehen. In dieses Haus, in dem es um Gerechtigkeit geht und nicht um Recht haben. In dieses Haus, in dem es um Öffnung geht, nicht um Verstockt sein. Dieses Haus, in dem Geschichten erzählt werden vom Teilen, vom Frieden, vom Ja-Sagen, vom Nein-Sagen, in dem Konflikte ausgetragen werden, in dem Platz ist für das Neue, das Überraschende, das alt Bekannte und das Gefährliche: Raum für Begegnung, für gefährliche Begegnungen. Dieses Haus der Träume, in dem wir davon träumen, wie es anders sein könnte in diesem Raum, in dieser Stadt, in diesem Land, auf dieser Welt. Dieses Haus der Träume, das ein Haus der Gemeinschaft aller Menschen ist. Gleich welcher Herkunft, welcher Religion, welchen Geschlechts. Das ist mein Haus der Träume. Das ist mein heiliger Raum.

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