Zum Nachlesen: Kanzelrede von Claudia Roth

Claudia Roth, Staatsministerin für Kultur und Medien, hat St. Lukas im Juli 2023 besucht und persönlich die Nachricht vom Bewilligungsbescheid überbracht, dass der Bund das Sanierungsprojekt St. Lukas mit knapp 7 Millionen Euro fördert. Wie St. Lukas Christsein und Kirche in der Großstadt lebt, hat sie mit großem Interesse und Sympathie verfolgt.

Der Einladung zu einer Kanzelrede folgt sie spontan und gern. Sie hat mit uns am 4. Februar 2024 Gottesdienst gefeiert; hier ist ihre Kanzelrede zum Nachlesen.

🖶 Diese Seite drucken
Kanzelrede von Staatsministerin für Kultur und Medien, Claudia Roth MdB, in St. Lukas in München, 4. Februar 2024

Einen schönen, berührenden, gemeinsamen Guten Morgen!

Es ist ein unglaublich bewegender Moment für mich, heute bei Ihnen sein zu dürfen. In diesem Raum, mit diesen Worten, mit dieser wunderbaren Musik. Vielen Herzlichen Dank für die Einladung lieber Helmut Gottschling, vielen herzlichen Dank für diesen Moment.

Sie haben mir keine leichte Aufgabe gestellt: „So muss Kirche heute“ ist vielleicht bewusst keine Frage, sondern die Aufforderung, sich der Frage zu stellen, „was kann Kirche heute?“. Aber auch diese Frage ist für eine Politikerin wie mich nicht leicht zu beantworten. Setzt sie doch voraus, sich zuallererst selbst zu fragen: „Was ist Kirche überhaupt?“ Und was ist sie für mich?

Der Augsburger Bert Brecht hat in den Svendborger Gedichten gefragt:

„In den finsteren Zeiten, / wird da auch gesungen werden? / Da wird auch gesungen werden. / Von den finsteren Zeiten.“

Ja die Zeiten sind finster. Sie sind geprägt und gequält von Krisen, Konflikten, Krieg, von Terror, von Hass und Hetze. Aber: Es gibt Hoffnung. Gestern in Augsburg hat auch die Kirche gezeigt, was Kirche heute muss. Über 30.000 Menschen sind gestern in Augsburg zusammengekommen um zusammen zu sein. Um gemeinsam ein Zeichen zu setzen, ein Zeichen der Stärke, ein Zeichen der Erleichterung, ein Zeichen der Ermutigung. Und mittendrin: Die Kirchen der Stadt. Unser Regionalbischof, der Dekan, der katholische Bischof von Augsburg – alle waren zusammen auf der Bühne und es war gut. Es war ein Zeichen für unsere Demokratie, für den Zusammenhalt in unserer Gemeinschaft. Gegen rechtsextreme Fantastereien und Planspiele von systematischer Diskriminierung, Ausgrenzung, Verfolgung und millionenfacher Deportation. Die Holocaust-Überlebende Eva Szepesi warnte uns im Bundestag in dieser Woche. Sie sagte: Die Shoah hat nicht mit Auschwitz angefangen. Sie begann mit Worten. Sie begann mit dem Schweigen und dem Wegschauen der Gesellschaft. Auch mit dem Wegschauen der Kirchen.

Gestern in Augsburg und an diesem Wochenende in 150 Städten in unserem Land sind viele Menschen, die nicht schweigen, die nicht wegsehen wollen und die anderen Mut machen wollen das gleiche zu tun. Einzutreten für die Demokratie, für die Kultur der Demokratie. Denn nie wieder ist jetzt.

Und lassen Sie uns jeden Tag deutlich machen, auch wir unter gleichen, dass wir unter gleichen sind. Die nicht danach streben, anderen ihre Würde, ihr Recht und ihre Integrität streitig zu machen weil ihr Pass eine andere Farbe hat. Wegen ihrer Hautfarbe, ihrer Religion, weil sie anders leben oder anders lieben.

Wir sind hier unter Menschen, die vor allem eines wollen: Andere Menschen spüren lassen, dass sie willkommen sind. Dass sie keine Bedrohung sind und keine Bedrohung zu fürchten haben. Dass hier in unserem Land dazugehört, wer auch die anderen Mensch sein lässt. Seien wir Menschen!

Es ist nicht wenig, es ist das Beste was wir sein und was wir tun können, um den Hass und die Menschenfeindlichkeit zu ersticken. „Sei ein Mensch!“ hat Marcel Reif bei der Gedenkstunde zum Holocaust Gedenktag im Bundestag seinen Vater zitiert.

Ich bin kein katholisches Kirchenmitglied mehr, und stamme zu einem Viertel aus einer katholischen Familie. Einer strenggläubigen katholischen Familie, aus der Franziska, meine Großmutter, von Wilhelm, einem Protestanten entführt wurde, meinem Großvater.

Katholizismus und Protestantismus waren in der Zeit der wilhelminischen Brautwerbung unter dem Dach des christlichen Glaubens nicht vereinbar. In manchen Teilen Bayerns wirkt das bis heute nach. Franziska und Wilhelm gelang es dennoch. Sie heirateten 1919 im Ulmer Münster – kirchlich. Es war eine der ersten ökumenischen Trauungen überhaupt. Der Pfarrer, der die beiden getraut hat, war der Vater von Erhard Eppler, den ich sehr geschätzt habe und der leider nicht mehr unter uns ist. Franziska und Wilhelm setzten mit ihrem Bund ein Zeichen gegen die religiöse Engstirnigkeit ihrer Zeit, in der „Mischehen“ nicht toleriert wurden.

Es ging also beides: die Kirche als Verhinderer, als unerbittliche Instanz, und die Ökumene, die ermöglichte, einen Weg bereitete, menschlich sein wollte, in der Nachfolge ihres Namensgebers: christlich. Das war eine Erfahrung, die Spuren hinterließ in der Familiengeschichte – und auch bei mir. Den Glauben des Anderen zu tolerieren, war in unserer Familie gelebter Alltag. Religion war also nie etwas, das auseinander gerissen hat, unversöhnlich nicht zusammengehört. Es war das tolerieren des Anderen. Mit Oma war ich am Sonntag im kleinen Franziskanerklösterle und mit Opa, manchmal, im strengen Münster.

Ökumene ist ein Begriff aus dem Griechischen. Er bezeichnet „das Bewohnte“ oder auch die „ganze bewohnte Welt“. Man kann sagen: Ökumene ist die Lehre vom einigen Zusammenwohnen. Das ist leichter gesagt als getan – nicht nur in der Kirche. Wie schwierig es ist, das Zusammenleben für alle erträglich zu machen, steht bereits in der Apostelgeschichte. Sie erzählt von einer Versammlung, auf der um die Frage gestritten wurde, wer zum Christentum gehören soll und wer nicht (Apostelgeschichte, Kapitel 15).

Am Ende wurde eine Lösung gefunden, die nicht nur für die Ökumene bis heute wegweisend ist: Die Versammlung formulierte Voraussetzungen, die für jede Christin und für jeden Christen verbindlich sind, räumte aber ein, dass es Fragen gibt, zu denen unterschiedliche Antworten möglich sein müssen, ohne die Zusammengehörigkeit zu gefährden. Damit gab sie einem Grundsatz Raum, für das sie selbst das Beispiel gab: Einigkeit kann nur im Gespräch miteinander gefunden werden.

Das, liebe Anwesende, ist ein großer Gedanke, nicht nur in der Welt des Glaubens und der Kirche. Er ist auch die Grundlage des demokratischen Rechtsstaats. Er lädt jedermann (und jede Frau) ein zum Gespräch, das heißt jede und jeden, der andere nicht vom Gespräch ausschließen will, nur weil sie andere sind. Er heißt jeden und jede in der Gemeinschaft der Bürger und Bürgerinnen willkommen, der andere ohne Ansehen ihrer Herkunft, ihrer sexuellen Identität oder ihrer Religion willkommen heißt. Er verweist die Behauptung der ursprünglichen Homogenität eines Volkes ins Reich der Lüge, die einzig dazu dienen soll, Teile der Bevölkerung aus der Gemeinschaft der Bürger:innen vom gemeinsamen Gespräch auszuschließen.

Und wie die Kirche weiß auch der demokratische Rechtsstaat, wie anstrengend und kompliziert „Ökumene“ ist. Einigkeit kann nur im Gespräch gefunden werden. Dafür muss sie aber erst einmal gesucht werden. Totalitäre Regime, Autokraten, Demokratiefeinde und Rechtsstaatsverächter suchen keine Einigkeit. Sie wollen sie erzwingen. Sie vermeiden das Gespräch und gebieten Schweigen, wie der russische Gewaltherrscher Putin, der nur die Sprache der Bomben und des Kanonendonners spricht.

Mit dem Überfall auf die Ukraine hat er den Krieg zurück nach Europa gebracht und damit Hunderttausende Kinder, Frauen und Männer zum Tod, zu Flucht und Vertreibung verurteilt. Der Krieg ist zurück in Europa, aber nicht nur in Europa. Und er hat mächtige Verbündete. Sie heißen Rassismus, Antisemitismus, Menschenfeindlichkeit, gruppenfeindliche Menschenfeindlichkeit und Hass.

Der Antisemitismus war schon lange vor der fürchterlichen Mordaktion der Terrorgruppe Hamas am 7. Oktober vergangenen Jahres in der Welt, aber seitdem meldet er sich weltweit immer lauter, immer brutaler, immer gewaltsamer zu Wort – auch in Deutschland.

Seit dem 7. Oktober hat das Bundeskriminalamt bis zum 22. Januar dieses Jahres 2 249 antisemitische Straftaten erfasst. Zum Vergleich: Im gesamten vergangenen Jahr wurden rund 2 300 antisemitische Straftaten registriert. Hinter diesen Zahlen verbergen sich Beleidigungen, Einschüchterungen durch Gewaltdrohungen, aber auch gewalttätige Übergriffe auf in Deutschland lebende Jüdinnen und Juden. Aggressiver Antisemitismus gehört seit dem 7. Oktober in Deutschland wieder zu ihrem Alltag und damit auch die Angst, öffentlich beleidigt, beschimpft und angegriffen zu werden. Und da ist die Frage: Kann ich hier bleiben in diesem Land?

„Nie wieder“ – dieses Versprechen haben wir Deutschen im Grundgesetz – dessen 75. Jubiläum wir in diesem Jahr feiern – gegeben. Es ist nicht nur ein Versprechen. „Nie wieder“ ist ein Handlungsauftrag. Wir dürfen nicht zulassen, dass der Antisemitismus, dass der Rassismus dieses Versprechen bricht. Das sind wir allen hier lebenden Jüdinnen und Juden, das sind wir allen die Opfer werden von Rassismus, aber auch uns selber schuldig. Das war das Versprechen der Mütter und Väter des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

Da steht nicht, die Würde des deutschen Menschen ist unantastbar, des männlichen Menschen, des christlichen Menschen, des weißen Menschen, des heterosexuellen Menschen, des nicht-behinderten Menschen. Dort steht: die Würde des Menschen ist unantastbar. Die Würde eines jeden Einzelnen.  Ob Deutscher oder Nicht-Deutscher, ob Jude oder Moslem, Sinti, Roma, ob People of Colour oder weiß, ob heterosexuell oder LGTBIQ, ob Menschen mit Behinderung. Die Würde des Menschen, jedes Menschen, ist unantastbar.

Dieser Satz steht auch nicht in irgendeinem Artikel, sondern in Artikel 1 des Grundgesetzes, der allen anderen Grundrechten vorangestellt ist. Er bildet das Fundament der Wertordnung des Grundgesetzes, so wie das Grundgesetz das Fundament der Bundesrepublik, des Staates und der Gesellschaft ist. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

Es gibt manche, die das nie verstanden haben und bis heute nicht verstehen. Das sind die, die auf Geheimtreffen Deportationspläne für Deutsche mit Migrationshintergrund und für politisch Unerwünschte schmieden, das sind die, die die Millionen Verbrechen der Deutschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem „Vogelschiss“ erklären, das sind auch die, die das Beharren auf dem Anspruch auf Menschenwürde für jeden und jede als rotgrünversifftes „Gutmenschentum“ diffamieren. Das sind die Botschafter des Hasses, die mit Halbwahrheiten und ganzen Lügen das öffentliche Gespräch vergiften, das sind die Angstmacher, die vor der vermeintlichen „Überfremdung“ Deutschlands warnen und jeden politisch Verfolgten und jeden Migranten und jede Migrantin zu Agenten einer internationalen Elite erklären, die den „Austausch“ oder „Umvolkung“ der deutschen Bevölkerung betreibe. Ziel ist es, so viel Unsinn wie möglich zu verbreiten, damit uns Hören, Sehen und Lesen vergeht. Ziel ist, dass wir am Ende nichts mehr glauben oder für wahr halten, dass unser Denken vergiftet und unsere Herzen versteinert werden. Wir alle, jeder und jede von uns, ist als Demokratin und Demokrat aber auch als Christin und Christ gefordert, dem Hass entgegen zu treten, wo immer er sich zeigt. In der Familie, am Arbeitsplatz, im Freundeskreis, im Verein, im Parlament und selbstverständlich auch in der Kirche. Gegen Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus, gegen Moslemfeindlichkeit, Homophobie, Sexismus, gegen Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit setzen wir die Schönheit der Verschiedenheit. Setzen wir Respekt und Mut. Setzen wir Freude und Verständigung. Setzen wir Humanität. So muss jeden Demokratin und jeder Demokrat, so muss jede Kirche in Deutschland, zusammenstehen als die Verteidigung der Menschenwürde.

So muss jede Demokratin, jeder Demokrat, und so muss Kirche in Deutschland – zusammenstehen als Verteidiger der Menschenwürde. Demokratie und Rechtsstaat sind niemals selbstverständlich. Aber die Menschenwürde ist immer und überall gefährdet – ganz besonders die Würde von Kindern und Jugendlichen, denn sie ist besonders verletzlich. Vor einigen Tagen hat die Studie eines von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) beauftragten unabhängigen Forscherteams uns alle erschüttert. Danach wurden in den vergangenen Jahrzehnten mindestens 2. 225 Kinder und Jugendliche Opfer sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche, 1. 259 mutmaßliche Täter wurden ermittelt. Die Autoren der Studie haben diese Zahlen ausdrücklich nur als „Spitze der Spitze des Eisbergs“ bezeichnet. Vermutlich sei von sehr viel höheren Zahlen, von mehr als 9 300 Betroffenen und fast 4 500 Tätern auszugehen. Die Studie hat uns alle entsetzt, auch mich. Aber fast ebenso entsetzt hat mich das Verhalten der Kirche. Sie hat vor dem Offensichtlichen jahrzehntelang die Augen geschlossen und die himmelschreiende Not der jungen Opfer überhört.

Die amtierende EKD-Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs hat reumütig bekannt: „Wir haben uns auch als Institution an unzählig vielen Menschen schuldig gemacht. Und ich kann sie, die sie so verletzt wurden, nur von ganzem Herzen um Entschuldigung bitten.“ Kompromisslose Aufklärung der Taten mit Hilfe externer Fachleute und Beschwerdestellen und ebenso vollkommene Transparenz ist das Mindeste, was die Betroffenen von der Kirche erwarten können. Das schuldet die Kirche den Opfern, und das schuldet sie sich selbst. Es geht um das Lebensglück der Betroffenen und um die Wiederherstellung der Integrität der Kirche. So kann, so muss Kirche heute – wenn sie morgen noch mitsprechen will und wenn sie ihre so wichtige Bindewirkung in unserer Gesellschaft wieder erlangen möchte. Und unsere Gesellschaft braucht diese Bindewirkung der Kirche gegen all die, die diese Gesellschaft spalten und auseinanderreißen wollen.

Für diese Kirche, die das Gespräch sucht, die um Antworten ringt, die Verfolgten, Schutzbedürftigen und Geflüchteten Schutz gewährt und sich zur Vielfalt der Lebens- und Liebesentwürfe bekennt, gibt es Beispiele in unserem Land. Eines dieser Beispiele ist die Kirche, in der wir heute zusammengekommen sind, die Kirchengemeinde Sankt Lukas in München.

Ich habe sie kennengelernt als eine Kirche, die sich früh, sehr früh zum Regenbogen bekannt hat und damit ein Zeichen gesetzt hat gegen die Doppelmoral vieler auch evangelischer Kirchen. Ich habe sie kennengelernt als eine Kirche, die nicht die Geflüchteten zum Problem erklärt sondern die Fluchtursachen, die Geflüchteten Schutz und Zuflucht gewährt hat. Ich habe diese Kirche kennengelernt als Ort des Dialogs und der Kontroverse, als Kraft-, als Mut-, als Hoffnungsgeber. Ein Ort, an dem Solidarität kein Sonntagssprech ist. Ich bin froh, die Grundmauern dieser Kirche und ihres Engagements auch mit Mitteln meines Hauses zu unterstützen. Es ist eine wunderbare Investition  in dieses wichtige Haus.

Eine Kirche, die dort auch poiltisch wirken will, wo sie es muss. Denn würde sie es nicht tun, verriete sie, was sie im Innersten zusammenhält: christliche Nächstenliebe, die nicht danach fragt, wer Du bist, woher Du kommst, wen Du liebst und woran Du glaubst.

Ich glaube, die Kirche hat schon lange verstanden, was sie muss. Sie muss dem Beispiel ihres Namensgebers folgen. Dietrich Bonhoeffer hat die Worte dafür gefunden: „Die Liebe will nichts von dem anderen, sie will alles für den anderen.“  Meine wunderbare Oma hat gesagt: „Claudi vergess‘ nicht, mir kann es nicht gut gehen wenn es meinem Nachbarn schlecht geht.“ Einen schöneren Satz kenne ich nicht.

Diese Seite teilen

Schreiben Sie einen Kommentar